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Mikrobiom: Erkenntnisse aus der Forschung

Credit: Pexels

Große Teile unseres Körpers bestehen aus Wasser. In unserem Innersten ist es allgegenwärtig. So auch das Mikrobiom. Welche Wechselwirkungen zwischen ihm, der Ernährung und unserem Gewicht bestehen, stehtseit längerem im Zentrum der Forschung.

Im Jahr 2000 imitierte der belgische Künstler Wim Delvoye im Museum von Antwerpen mit einer geräuschvollen Maschine den menschlichen Verdauungsprozess – der sich in unserem Darm jedoch zum Glück diskret vollzieht. Wie komplex dieses Organ ist, wusste zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht einmal die Wissenschaft. Erst dank genetischer Sequenzierung der extrem vielfältigen Mikroorganismen in unserem Darm zeichnete sich in den letzten Jahren deren wichtige Rolle für unsere Gesundheit ab. Inzwischen liefert die Analyse der Populationen freundlicher und feindlicher Pilze, Bakterien und Viren im Darmtrakt präzise Auskunft über andernfalls unsichtbare Alterungsprozesse und die Entstehung degenerativer Krankheiten. Doch dank seiner gut dreißig Quadratmeter großen Oberfläche behaust der Darm eine Vielzahl von Antigenen. Zu diesen Kolonien verhält sich ein gesunder Darm als immuntoleranter Wirt. Seine Schleimhäute fungieren als eigenes Immunsystem, das mit Rezeptoren zur Strukturerkennung der über tausend Arten von Organismen im Darmmilieu ausgestattet ist und mit dem übergreifenden Immunsystem des Körpers kommuniziert.

Tim Spector, Epidemiologe am King’s College in London, untersucht seit 2014 anhand von 700 Zwillingen die Reaktion der Darmflora auf Diätmaßnahmen und deren Einfluss auf das Gewicht.

Es stellte sich heraus, dass das Mikrobiom selbst bei eineiigen Paaren nur zur Hälfte übereinstimmt – ein Signal für den ebenso großen Einfluss nicht genetischer Faktoren auf die Darmbiota. Eine anschließende internationale Studie mit dem Harvard-Gastroenterologen Andrew Chan als Ko-Autor unter dem Titel „PREDICT 1“ analysierte das Mikrobiom der 1100 Teilnehmer sowie deren Essgewohnheiten und Blutwerte im Detail. Der Einfluss spezifischer Nahrungsstoffe auf die Zusammensetzung der Darmflora konnte nachgewiesen werden und es fanden sich dort auch zuverlässige Biomarker für Fettleibigkeit. Eine laufende Studie mit vierzig Wissenschaftlern aus aller Welt will mithilfe der Daten aus dem Darm individualisierte Ernährungsstrategien entwickeln. Das Ideal ist eine maßgeschneiderte Diät, die Nahrung zur Medizin erhebt.

Die erste mikrobielle Besiedlung erfolgt bereits im Mutterleib. Im Alter von drei Jahren ähnelt das Mikrobiom bereits dem eines Erwachsenen und von da an spielt die Ernährungsweise eine grundlegende Rolle. Entscheidend ist das Verhältnis von guten Mikroben wie Bifidobacterium und Lactobacillus und schädlichen Arten wie Gamma-Proteobakterien und Clostridium. An diesem Verhältnis lässt sich sogar eine erstaunlich zuverlässige Prognose für zukünftige Leiden machen: Diabetes Typ 2, rheumatische Arthrose und Dickdarmkatarrh treten gemeinsam mit der Überzahl von schädlichen Bazillen auf. Noch wagen die Wissenschaftler nicht, ein Ungleichgewicht zwischen vorteilhaften und den abträglichen Mikroben zur Ursache für Krankheiten und Alterung zu erklären, schließlich könnte es sich bei dem ungesunden Mikrobiom umgekehrt auch um Begleiterscheinungen von anderweitig entstandenen Krankheiten handeln. Doch haben Tierversuche, unter anderem mit gealterten Exemplaren eines türkisen afrikanischen Karpfens, gezeigt, dass die Transplantation einer gesunden Biota zu einer akuten Verjüngung und vermehrter Mobilität führte. Übergewichtige Mäuse nahmen mit dem Import einer ausgewogenen Darmflora ab. Spector und sein Team vermuten, dass die großen Unterschiede bei der Verarbeitung von Hauptnährstoffen wie Kohlenhydraten und Proteinen von einer Person zur nächsten entscheidend von deren jeweiligem Mikrobiom abhängig sind, und das gilt dementsprechend auch für die Gewichtsabnahme.

Die symbiotische Koexistenz zwischen Mikroben und Wirt ist das Ergebnis einer Millionen Jahre langen Evolution. Auf molekularer Ebene vollzieht sie sich als konstanter Cross Talk. Man weiß, mangelnde Diversität des Mikrobioms schwächt die Darmwand, sodass Bakterien entweichen und andere Gewebe zu Entzündungsreaktionen reizen können. Englischsprachige Forscher haben kürzlich den Neologismus „Inflammaging“ gebildet, der das rapide wachsende Wissen um den Einfluss von chronischen Entzündungsprozessen auf das Altern reflektiert. Der freizügige Umgang mit Antibiotika und Fast Food trägt zur Verarmung der Flora statt zu ihrer wachsenden Vielfalt bei. Die Korrelation zwischen mangelnder Darmintegrität und degenerativen Krankheiten von Alzheimer über Herzleiden bis zum Leberkrebs ist so stark, dass Wissenschaftler von einer Uhr sprechen, an der sich die Lebenserwartung ablesen lässt. Das Mikrobiom ist so individuell wie ein Fingerabdruck und dessen Analyse wird mehr und mehr als diagnostisches Instrument gesehen.

Doch im Unterschied zum Fingerabdruck lässt sich die Darmflora durch Ernährung und Ergänzungsstoffe wie Pre- und Probiotica beeinflussen. „Unsere Gene können wir nicht ändern, wir können aber die Zusammensetzung der unterschiedlichen Bakterien in unserem Darm ummodellieren“, erklärt der Zellbiologe Eran Segal, die an Chans und Spectors Studie mitarbeitete. Letzterer hat sowohl einen Stuhltest als auch eine noch nicht überall verfügbare App namens Zoe entwickelt, die personalisierte Ernährungsratschläge erteilt. Aber die Gruppe norditalienischer Hundertjähriger, denen eine Studie ein Darmökosystem mit einer auffallend großen Anzahl vorteilhafter Mikroben bescheinigte, hat das der klassischen vorindustriellen Diät zu verdanken. Und die gelingt auch ohne App.

Das Ideal einer mikrobiombasierten Ernährung ist eine maßgeschneiderte Diät, die Nahrung zur Medizin erhebt.

Von:
Online Redaktion
20. Dezember 2023